Wie gelingt der Theorie-Praxis-Transfer? Das AI Literacy Canvas im Einsatz
Wie können Studierende und Lehrende befähigt werden, souverän, reflektiert und zukunftsorientiert mit KI umzugehen? AI Literacy – also die Fähigkeit, KI-Technologien nicht nur grundlegend zu verstehen, sondern auch kritisch zu hinterfragen, kreativ einzusetzen und verantwortungsvoll weiterzuentwickeln – gilt als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts. Hochschulen stehen damit vor der Herausforderung, Lernangebote, didaktische Konzepte und institutionelle Strukturen so zu gestalten, dass ein wirkungsvolles und nachhaltiges KI-Kompetenzprofil entstehen kann.
Trotz steigender Bedeutung mangelt es bislang an systematischen, evidenzbasierten und zugleich praxisnahen Ansätzen, um AI Literacy in der Hochschullehre gezielt zu fördern. Gerade hier setzt das AI Literacy Canvas an, um eine Brücke zwischen theoretischen Modellen, angewandten Lernformaten und institutionellen Rahmenbedingungen zu schlagen. Dabei knüpft es an bestehende Fachtraditionen an und öffnet gleichzeitig neue Wege, um KI-Kompetenzen disziplinübergreifend und bedarfsorientiert auszubauen.
Das AI Literacy Canvas: Ein Werkzeug für die Hochschullehre
Das AI Literacy Canvas versteht sich als strukturierendes und dynamisches Instrument, das Lehrenden und Studierenden dabei hilft, KI-Kompetenzen ganzheitlich zu entwickeln. Durch seine modulare und erweiterbare Architektur berücksichtigt es sowohl individuelle als auch institutionelle Voraussetzungen. Fundierte Theorien wie die Bloomsche Taxonomie dienen der Entwicklung klar definierter Lernziele, während das Canvas praxisnahe, kollaborative Formate unterstützt, um theoretische Kenntnisse mit anwendungsorientiertem Handlungswissen zu verbinden.
Entwickelt wird das Canvas im Rahmen einer Forschungsarbeit von Vroni Hackl, die sich mit dem systematischen Theorie-Praxis-Transfer des AI Literacy Begriffs beschäftigt.
Das AI Literacy Canvas im Detail
Die Struktur des Canvas schafft einen mehrdimensionalen Orientierungsrahmen, der verschiedene Kompetenzbereiche, kontextuelle Faktoren und strukturelle Bausteine integriert. Es hilft, ein breites Spektrum an KI-Fähigkeiten systematisch abzubilden und auf die Anforderungen der jeweiligen Fachdomäne anzupassen.
Dimensionen der AI Literacy
Die Dimensionen bilden ein ausdifferenziertes Raster, um KI-Kompetenzen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, z.B.:
- Grundverständnis: Vermittlung und Vertiefung zentraler Konzepte, Architekturen und Funktionsprinzipien von KI.
- Praktische Fähigkeiten: Aufbau von Fertigkeiten im Umgang mit KI-Tools, Algorithmen und Datenverarbeitungstechniken.
- Kritisches Denken: Fähigkeit zur differenzierten Einschätzung der Leistungsfähigkeit, Grenzen und Unsicherheiten von KI.
- Ethische Reflexion: Auseinandersetzung mit Normen, Werten und moralischen Fragestellungen, insbesondere im Hinblick auf Diskriminierungsrisiken, Datenschutz, Fairness und gesellschaftliche Verantwortung.
Ergänzende Bausteine für AI Literacy
Diese Bausteine ermöglichen die Kontextualisierung der Dimensionen und machen das Canvas zu einem flexiblen Werkzeug, das sich an unterschiedliche institutionelle Rahmen anpassen lässt:
- Fachdomäne und Kompetenzbereiche: Berücksichtigung spezifischer Anforderungen, Methoden und Inhalte des jeweiligen Studienfachs.
- Bisherige Erfahrungen: Anknüpfen an bestehende Lehr-Lern-Konzepte, pilotierte Formate und bereits entwickelte Materialien.
- Nächste Schritte: Iterative Anpassung und Weiterentwicklung des eigenen Lehrkonzepts auf Basis von Feedback, Evaluation und neuen Forschungserkenntnissen.
- Soziale Aspekte: Förderung von inklusiven, partizipativen Lernumgebungen, in denen heterogene Gruppen gemeinsam an KI-Projekten arbeiten.
- Ressourcen und Tools: Bereitstellung praktischer Werkzeuge, Plattformen, Datensätze und Tutorials, um die unmittelbare Umsetzung in Lehrveranstaltungen zu erleichtern.
- Organisation und Kultur: Sensibilisierung für institutionelle Bedingungen, strategische Ziele und Governance-Strukturen, die den Einsatz von KI in der Lehre begünstigen oder hemmen.
- Lehr-/Lernformate: Entwicklung passgenauer didaktischer Szenarien – von Vorlesungen über Workshops bis hin zu projektbasiertem Arbeiten – um Theorie und Praxis sinnvoll zu verzahnen.
Entwicklung und Feedback im Build-in-Public-Ansatz
Das AI Literacy Canvas ist nicht als statisches Endprodukt konzipiert, sondern als ein „Work in Progress“, der sich im offenen Austausch mit der Community stetig weiterentwickelt. Der Build-in-Public-Ansatz bedeutet, Arbeitsschritte, Iterationen und Veränderungen transparent zu machen und öffentlich zur Diskussion zu stellen. Lehrende, Forschende, Studierende, Fachgruppen, aber auch andere Expert*innen sind eingeladen, Anregungen, Kritik, Erfahrungsberichte und Visionen beizutragen.
Einladung zur aktiven Mitgestaltung
Die Weiterentwicklung des Canvas ist ein partizipativer Prozess. Setzen Sie Impulse, indem Sie beispielsweise folgende Fragen reflektieren und kommentieren Sie oder schreiben Sie mir!
- Welche Dimensionen und Bausteine haben sich in Deinem / Ihrem Lehrkontext als besonders relevant erwiesen?
- Mit welchen Formaten, Methoden und Tools konntest Du / konnten Sie bereits Erfolge erzielen oder sind gescheitert? Was lernen wir daraus?
- Wie lässt sich das Canvas an sehr spezifische Fachdomänen, ungewöhnliche Disziplinen oder interdisziplinäre Schnittstellen anpassen?
- Welche nächsten Schritte sind aus Deiner Sicht / Ihrer Sicht unabdingbar, um AI Literacy langfristig, nachhaltig und wirkungsstark in der Hochschullehre zu verankern?
Hier geht’s zum kollaborativen Miro-Board
Du hast / Sie haben direkt einen Kommentar oder Idee zum Canvas? Dann ist hier der Platz dafür!
Praktische Anwendung des AI Literacy Canvas
Das AI Literacy Canvas lässt sich in verschiedensten Kontexten anwenden. Je nach Disziplin, Modulstruktur, Lehr- und Lernkultur sowie technischer Ausstattung ergeben sich unterschiedliche Schwerpunkte. Anbei ein erster Versuch, das Canvas aus der Perspektive Deutsch-Didaktik auszufüllen.
Szenarien aus verschiedenen Disziplinen für das AI Literacy Canvas
- MINT-Fächer: Verankerung von KI-Grundlagen in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, kombiniert mit praktischen Laborformaten. Ergänzend reflektieren die Studierenden ethische Konsequenzen ihres Handelns.
- Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften: Kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, historischen und philosophischen Fragen der KI-Nutzung. Gleichzeitig Einsatz von KI-Werkzeugen zur Analyse von Texten, Bildern oder Sprachdaten.
Lehr-/Lernformate für AI Literacy
- Projektarbeit: Studierende bearbeiten in Teams reale Problemstellungen aus Industrie, Forschung oder Gesellschaft und entwickeln KI-basierte Lösungskonzepte. Durch iterative Reflexionsschleifen lernen sie, ihre Ansätze fortlaufend zu optimieren.
- Simulationen und Fallstudien: Authentische Szenarien schärfen den Blick für Komplexität, Unsicherheit und Kontroversen in der Anwendung von KI.
- Peer-Learning und Mentoring: Gegenseitiges Coaching, Peer-Feedback und Tandemlernen stärken kollaboratives Problemlösen und fördern den Wissensaustausch.
Ressourcen und Tools
Von interaktiven Lernplattformen über Open-Source-Software für maschinelles Lernen bis hin zu praxisnahen Toolkits für die Integration von KI in bestehende Lehrsettings steht eine breite Palette an Hilfsmitteln zur Verfügung. Das Canvas dient hier als Möglichkeit, um im Dschungel der Angebote passende Lösungen auszuwählen und in die didaktische Konzeption einzubetten.
Regulatorische Rahmenbedingungen: Bezug zum EU AI Act
Die Implementierung von KI in der Hochschullehre ist nicht nur eine pädagogische und technologische, sondern auch eine regulatorische Herausforderung. Der EU AI Act, insbesondere Artikel 4, liefert einen Rahmen für den Umgang mit KI-Systemen unterschiedlicher Risikoklassen. Die Vermittlung von AI Literacy muss daher auch die Fähigkeit umfassen, regulatorische Vorgaben zu verstehen, ihre Implikationen auf Bildungsprozesse zu reflektieren und KI-Systeme konform mit geltenden Bestimmungen zu nutzen.
Das AI Literacy Canvas kann Lehrenden und Studierenden helfen, die regulatorischen Anforderungen des EU AI Act zu interpretieren: etwa indem sie lernen, Risikobewertungen vorzunehmen, vertrauenswürdige Datenquellen auszuwählen, Bias-Reduktion zu betreiben und angemessene Sicherheits-, Transparenz- sowie Governance-Mechanismen anzuwenden. Auf diese Weise trägt das Canvas dazu bei, KI-Kompetenzen nicht nur fachlich, sondern auch normativ und verantwortungsethisch zu verankern.
Herausforderungen und Ziele des AI Literacy Canvas
Spätestens seit dem Launch von ChatGPT zeigt sich, dass der Theorie-Praxis-Transfer, die fachliche Spezialisierung und die Einbettung in institutionelle Strukturen keine trivialen Aufgaben sind. Zudem erfordert die Berücksichtigung regulatorischer Rahmenbedingungen wie des EU AI Act zusätzliche Expertise und kontinuierliche Anpassungen.
Die Vision ist es, das Canvas als Werkzeug für die Entwicklung von KI-Kompetenzen im Hochschulkontext zu etablieren. Langfristig geht es darum, Standards zu setzen, empirische Wirksamkeitsnachweise zu erbringen und eine lebendige Community zu schaffen, in der sich Best Practices, Erfahrungen und Innovationen frei austauschen lassen.
TL;DR
Das AI Literacy Canvas ist ein umfassender, multidimensionaler Orientierungsrahmen, um KI-Kompetenzen in der Hochschullehre systematisch, praxisnah und partizipativ zu fördern. Es verknüpft theoretische Modelle mit anwendungsorientierten Formaten, adaptiert sich an unterschiedliche Fachdomänen und institutionelle Bedingungen und berücksichtigt regulatorische Vorgaben wie den EU AI Act. Durch den Build-in-Public-Ansatz werden Lehrende, Studierende, Forschende und externe Stakeholder kontinuierlich in die Weiterentwicklung eingebunden. Das Ziel ist ein flexibles, dynamisches Werkzeug, das Hochschulen dabei unterstützt, KI nicht nur fachlich-technisch, sondern auch kritisch-reflexiv, ethisch und verantwortungsvoll in die Lehre zu integrieren und so die nächste Generation von KI-kompetenten Fachkräften und Wissenschaftler*innen auszubilden.
Beschäftigt sich in ihrer Promotion mit dem Einsatz von KI in der Hochschulbildung und bringt mit ihrem KI Marketing Bootcamp deutschen Unternehmen das Prompten bei.