DiLab-Blog - Raum für Lehrinnovation > DiLab > Mit der Denkfabrik gegen das Querdenken: „Propaganda, Verschwörungsmythen, Fake News in historischer Perspektive“ – Ein interdisziplinäres Format zur Stärkung der historical literacy in der Lehrkräftebildung

Mit der Denkfabrik gegen das Querdenken: „Propaganda, Verschwörungsmythen, Fake News in historischer Perspektive“ – Ein interdisziplinäres Format zur Stärkung der historical literacy in der Lehrkräftebildung

Ein Beitrag von Florian Zitzelsberger und Julia Siwek

Was heißt es, wenn in der Politik von ‚Hexenverfolgung‘ gesprochen wird? Was steckt hinter den ‚Offenbarungen‘ von QAnon? Welchen Nachrichtenkanälen kann man noch Glauben schenken? Fragen wie diese rücken in den letzten Jahren immer stärker in das öffentliche Bewusstsein, denn durch die fortschreitende Digitalisierung erhöht sich die Geschwindigkeit der Produktion, Dissemination und Verarbeitung von Informationen und zugleich die Unsicherheiten und Gefahren im Umgang mit ihnen. Doch Propaganda, Verschwörungsmythen oder Fake News sind keineswegs Neuerscheinungen oder (reine) Symptome einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass diese Phänomene über einen sehr großen Zeitraum zurück verfolgbar sind und in unterschiedlichsten historisch-kulturellen Kontexten auftraten. Die diachrone Betrachtung liefert außerdem mögliche Ansatzpunkte für die Frage, unter welchen Umständen die damit verbundenen Ideologien gesellschaftsfähig werden und wie ihre multimodalen Erscheinungsformen einzuordnen sind.

Im Wintersemester 2021/22 fand im Rahmen des Projektes SKILL.de (Strategien zur Kompetenzentwicklung: Innovative Lehrformate in der Lehrerbildung, digitally enhanced) unter Leitung von Julia Siwek und Florian Zitzelsberger ein interdisziplinärer, bilingualer Think Tank zur Information and Media Literacy (IML) statt, der sich dem Thema „Propaganda, Verschwörungsmythen, Fake News in historischer Perspektive“ widmete. Das Format des IML-Think-Tanks „versteht sich als eine Denkfabrik, in der sich Lehramtsstudierende gleichberechtigt mit Dozierenden […] kritisch damit auseinandersetzen und darüber nachdenken, wie man zu einer/m aktiven, mündigen und kritisch-kompetenten AkteurIn in der heutigen digitalen Informations- und Wissensgesellschaft werden kann“ (Makeschin, S. 166). Dieser Denkfabrik wurde durch die Zusammenarbeit der Professuren für Ältere Deutsche Literaturwissenschaft und Amerikanistik/Cultural and Media Studies ein Raum gegeben, der seine Entsprechung in den Räumlichkeiten der didaktischen Innovationslabore der Universität Passau (DiLab Klassenzimmer) und einer digitalen Lernumgebung auf ILIAS fand. In diesem Beitrag sprechen wir uns für die Relevanz von IML aus, die, verbunden mit einem vertieften Geschichtsbewusstsein, Studierenden einen reflektierten Umgang mit Propaganda, Verschwörungsmythen und Fake News in der Gegenwart ermöglicht.

Während Propaganda, Verschwörungsmythen und Fake News im Zeitalter der Digitalisierung oft eine exponierte Stellung zugesprochen wird, betont aktuelle Forschung, dass die multimediale Verbreitung sowie die intensive Berichterstattung über ihr Vorkommen bzw. ihre Folgen in vielen Fällen zwar zu einer erhöhten Sichtbarkeit der Phänomene beitragen, das Internet und soziale Medien aber keineswegs ihre Entstehung bedingen. Der Kurs hatte sich daher zum Ziel gesetzt, durch die Auseinandersetzung mit (literarischen) Texten und Text-Bild-Medien wie beispielsweise Flugblättern, Holzschnitten und Kupferstichen eine historische Perspektive auf Propaganda, Verschwörungsmythen und Fake News zu eröffnen – und darüber mögliche Antworten für deren Prävalenz im Zeitalter der Digitalisierung zu diskutieren. Die Studierenden sollten dazu befähigt werden, gegenwärtige kulturelle und politische Diskurse vor der Folie ihrer Entwicklung und medialen Verarbeitung zu reflektieren. In diesem Sinne leistete der Think Tank einen Beitrag zum Erwerb jener Kompetenzen, die Michael Butter als zentral für den Umgang mit Verschwörungstheorien erachtet und die sich im Passauer Ansatz zur IML in dem Bewusstsein für die Dimensionen der Medialität, Konstruktivität, Kulturalität und Historizität (Pollak et al., insb. S. 15; ferner S. 24ff. und S. 39ff.) wiederfinden:

„Daher wäre es äußerst wünschenswert, wenn mehr Menschen in Schule und Universität die entsprechende ‚Gesellschaftskompetenz‘ oder social literacy, wie man sie neudeutsch nennen könnte, vermittelt würde. Eine solche social literacy wäre der wichtigste Baustein einer Strategie gegen die Ausbreitung von Verschwörungstheorien, sie sollte aber unbedingt ergänzt werden durch zwei Aspekte, die ich als ‚Medienkompetenz‘ oder media literacy und ‚Geschichtskompetenz‘ oder historical literacy bezeichnen würde.“

(Butter, S. 229)
Erste Annäherungen an die Begrifflichkeiten (nach Butter 2018): Ein Ausschnitt der kollaborativen Concept-Map


Neben den Kursdiskussionen loteten die Studierenden in interdisziplinären Tandems die Potenziale der Kursinhalte (siehe unten) für den Erwerb dieser Kompetenzen aus, indem sie über das gesamte Semester hinweg alle Sitzungsergebnisse auf einem Online-Whiteboard in Form einer Concept-Map kollaborativ und kooperativ festhielten. In dieser gemeinsamen Kursdokumentation visualisierten und sicherten sie die diachronen, transnationalen und transmedialen Perspektiven, die sich erst aus der Zusammenschau der Disziplinen und ihrer individuellen Schwerpunktsetzungen ergaben. Ziel des Kurses war ein multiperspektivischer Zugang zur Thematik, der durch Gastbeiträge anderer Fachrichtungen – von Geschichte und Geschichtsdidaktik über Kunst- und Medienpädagogik bis hin zur englischen Linguistik – ergänzt und erweitert wurde.

Überblick über die mitwirkenden Disziplinen und Sitzungsthemen


Eine dreistündige Online-Fortbildung des Anne Frank Zentrums Berlin zu „Antisemitismus – Geschichte und Aktualität“ am Semesterende hob besonders die von Butter als zentral angenommene social literacy und historical literacy sowie die gesellschaftliche Relevanz der kritischen Auseinandersetzung mit Propaganda, Verschwörungsmythen und Fake News hervor: Über historische und zeitgenössische mediale Beispiele diskutierten die Gastdozentinnen mit den Studierenden den – insbesondere für die deutsche Geschichte – überaus zentralen Aspekt der antisemitischen Verschwörungstheorien. Anschließend wurden über die Auseinandersetzung mit Fallbeispielen Handlungsperspektiven zum Umgang mit antisemitischen Vorfällen im schulischen Umfeld eröffnet. Dank dieser Kooperation mit einer außeruniversitären Bildungseinrichtung konnte zum einen einzigartige Expertise zu diesem wichtigen Themenschwerpunkt eingeholt werden. Zum anderen bot der Fokus auf Antisemitismus im Schulkontext und die Einbindung der Studierenden in ihrer Rolle als zukünftige Lehrkräfte wichtige Impulse hinsichtlich deren Professionalisierung im Bereich der Antidiskriminierung.

Die konkrete Gestaltung des IML-Think-Tanks kann als Beispiel für die Integration der in SKILL und SKILL.de entwickelten Lehrformate in bestehende Curricula betrachtet werden: Studierende konnten sich den Kurs als Proseminar für die Ältere Deutsche Literaturwissenschaft oder die englische/amerikanische Literaturwissenschaft anrechnen lassen. Neben den Schwerpunkten in beiden Fächern, die den proportional größten Teil des Kursprogrammes einnahmen, ermöglichte der Fokus auf IML die Auseinandersetzung mit den Methoden einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft, selbst wenn die Inhalte sich in Epochenkontext und Kulturraum unterschieden. Daneben bestand die Möglichkeit zur Anrechnung über die Fächergrenzen hinweg, beispielsweise als Teil des Schwerpunktes IML im M.Ed. Bildungs- und Erziehungsprozesse sowie für das Zertifikat Information and Media Literacy.

Im Sinne des Gesamtprojektes SKILL.de stand im IML-Think-Tank die integrative Vermittlung fachwissenschaftlicher und digitalisierungsbezogener Kompetenzen im Vordergrund, um Studierenden einen Transfer der im Kurs erarbeiteten historischen Perspektive in eigene Wissensbestände zu ermöglichen und diese für ihre persönliche Mediennutzung und (didaktische) Medienproduktion anknüpfungsfähig zu machen. Workshops zur Mediengestaltung ergänzten daher das Kursprogramm und führten die Studierenden bereits während der ersten Semesterhälfte an die Möglichkeiten der Produktion von Podcasts und digitalen Büchern heran, welche sie im Rahmen ihrer Abschlussprojekte für ein selbstgewähltes Thema nutzbar machten.

Eine Seminarteilnehmerin schildert ihre Kurserfahrung so:

„Der Think Tank ermöglichte es mir, die Konstruktion, Verbreitung und Wirkung von Verschwörungstheorien und Propaganda besser zu verstehen. Mithilfe der Interdisziplinarität wurde hierbei ein vergleichender Blick in die Vergangenheit Deutschlands und der USA geworfen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Propaganda und Verschwörungstheorien über Zeiten und Kulturkreise hinweg konnten auf diese Weise hervorgehoben werden. Als besonders bereichernd empfand ich die Analyse von Heinrich Kramers ‚Hexenhammer‘, die mir erneut und sehr eindrücklich vor Augen führte, wie tief die Frauenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft verankert ist und welche verheerenden Konsequenzen damit verbunden waren. Als angehende Lehrerin sehe ich es nun als meine Aufgabe, mit diesem Wissen meine SchülerInnen für Fake News, Propaganda und Verschwörungstheorien zu sensibilisieren.“



Referenzen:

Butter, Michael. „Nichts ist, wie es scheint“: Über Verschwörungstheorien. Suhrkamp, 2018.

Makeschin, Sarah. „Der Information-and-Media-Literacy-Think-Tank: Eine Forderung nach neuem Denken und Partizipation in der universitären Lehre im digitalen Zeitalter.“ PAradigma: Beiträge aus Forschung und Lehre aus dem Zentrum für Lehrerbildung und Fachdidaktik, vol. 9, 2019, S. 166-180.

Pollak, Guido, et al. „Interdisziplinäre Grundlagen der Information and Media Literacy (IML): Theoretische Begründung und (hochschul-)didaktische Realisierung – Ein Positionspapier.“ PAradigma: Beiträge aus Forschung und Lehre aus dem Zentrum für Lehrerbildung und Fachdidaktik, vol. 9, 2019, S. 14-129.